Adaptive Steifigkeit

Drei Fragen an Heiko Andrä, Linda Weisheit und Wilhelm Wockenfuß

Interview durchgeführt von Wiebke Beckmann und Thomas Götz (07.07.2020)

Wir leben zwar in einer digitalisierten Welt, doch gefühlt macht diese nur einen Bruchteil aus, wenn man bedenkt in welchem Ausmaß wir bewusst und unbewusst mit materialen Dingen wechselwirken. Deren mechanische Eigenschaften, insbesondere deren Steifigkeit, haben einen enormen Einfluss auf unser Wohlbefinden, unsere Lebensqualität aber auch auf unsere Sicherheit. Materielle Produkte sind hart oder weich, steif oder biegsam. Darauf haben wir uns eingestellt. Aber was, wenn das keine Vorgabe, sondern eine flexible Größe ist. Linda Weisheit und Wilhelm Wockenfuß arbeiten genau an dieser neuen Erfahrung der materiellen Welt: Sie entwickeln Materialien mit adaptiver Steifigkeit …

Was sind Anwendungen in denen »Adaptive Steifigkeit« zum Tragen kommt?

Assistenz: Menschen mit Einschränkungen bekommen Unterstützung von roboterähnlichen Handhabungsgeräten. Die Greifer sind aber nicht wie eine klassische Zange beschaffen, sondern als fingerähnliche weiche Greifer, die ein Verletzungsrisiko ausschließen und so beschaffen, dass diese unterschiedlichsten Gegenstände fassen und manipulieren können. Außerdem werden Roboterarme in ihrer gesamten Struktur – wie ein Elefantenrüssel – adaptiv schaltbar, wodurch sie sich an komplexe Geometrien anpassen und Hindernisse schlangenförmig umgehen oder umschließen können. Im Fall eine Kollision mit Menschen können sie schlagartig weich werden aber durch die schaltbare Steifigkeit hohe Lasten heben. So kann eine inhärent sichere Mensch-Maschine-Interaktion gewährleistet werden.

Sharing: Individualisierung durchzieht die Produktwelt wie kaum ein anderer Trend. Die Schattenseite ist, dass Produkte aber auch nur von einer Person genutzt werden können. Es macht ja auch keinen Sinn, seine Schuhe zu teilen. Aber Elektrogeräte oder Fahrzeuge, deren Nutzungsqualität vom »Passen«, also der Form, der Haptik, der Ergonomie abhängen, werden viel individueller sein, wenn sich diese besser am Nutzenden orientieren.

Wohnen: Ihr Lieblingsstuhl, auf dem Sie im Homeoffice täglich mehrere Stunden verbringen, passt die Form der Sitzschale und die Kontur der Rückenlehne Ihrer Körperspannung an und entlastet dadurch Ihre Wirbelsäule und wirkt einer arbeitsbedingten Erschöpfung entgegen

Verkehr: Die mit einer Touchfunktion ausgestatteten Bedienelemente im Automobil fühlen sich nur dann als Schalter an, wenn sie benötigt werden – natürlich ohne mechanische Elemente – und verhelfen zu einer besseren Orientierung beim Bedienen und vermitteln ein Feedback zu den ausgelösten Funktionen

Sport: Wer kennt die Vibrationen beim Radfahren auf Kopfsteinpflaster nicht. Ein Fahrradrahmen mit adpativer Steifigkeit würde Linderung versprechen: Auf einer holprigen Straße erhöht dieser den Fahrkomfort und die Sicherheit indem er die Vibrationen dämpft, beim Bergauffahren hilft eine höhere Rahmensteifigkeit bei der besseren Kraftumsetzung.

Gesundheit und Sicherheit: Wie schnell geht es, dass man stolpert und stürzt, von Sportunfällen ganz abgesehen. Individualisierte Sicherheitssysteme mit maßgeschneiderten Funktionen werden zukünftig ganz persönliche Schutzfunktionen übernehmen und die Folgeschäden von Unfällen kleiner, junger und alter Menschen eindämmen, sei es im Haushalt, in der Freizeit oder im Sport. Aber nicht nur in der Prävention werden Materialien mit adaptiver Steifigkeit ihre Stärken ausspielen, sondern auch in der Rehabilitation, wenn Unterstützung, Stabilisierung oder Lagerung etc. gefordert sind.

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Welche Materialfunktionen bringen den Nutzen?

Adaptive Steifigkeit: Die innere Beschaffenheit programmierter Materialien ermöglicht, dass diese verschiedene Steifigkeiten/Nachgiebigkeiten haben können, die u.a. durch eine Umordnung und damit eine Veränderung der Materialparameter im Inneren erzeugt werden.

Dämpfung: Steifigkeitsänderungen beeinflussen meistens stark das Dämpfungsverhalten eines Systems oder Bauteils. Durch Verringerung der Steifigkeit ist es möglich, Komponenten temporär zu entkoppeln und so Stoßbelastungen besser abzufedern und zu dämpfen.

Formänderung: Der Clou ist, dass diese Änderungen an verschiedenen Stellen eines Bauteils unterschiedlich sein können – ähnlich wie Zellen in der Natur – und diese Zellen einzeln angesteuert werden können. Die Adaptive Steifigkeit unterstützt dadurch, dass Strukturelemente weich geschaltet werden können, um die Formänderung zu ermöglichen und durch das erneute Versteifen die geänderte Form einfrieren. Diese lokale Adaptivität birgt das große Potenzial individualisierter Produkte, indem diese an bestimmten Stellen »weich« werden und ihre Form ändern können, ohne die Stabilität des Gesamtsystems zu beeinträchtigen.

Es gibt verschiedene Trigger, für eine Materialanpassung:

-          Druck kann zu einer gezielten und voreingestellten Verformung eines Produkts führen,

-          Licht kann eine mechanische Reaktion im Material auslösen,

-          Vakuum lässt lose Strukturen in sich verkeilen,

-          elektrische oder magnetische Felder führen zur Ausrichtung von Partikeln oder dazu, dass sich Grenzflächen miteinander verbinden

Im Ergebnis können durch Druck schlaffe Strukturen gespannt, durch Vakuum Partikel, Schichten oder Fasern durch Reibkräfte miteinander verbunden werden, durch Felder bilden Partikel oder Fasern Kraftketten oder Grenzflächen verbinden sich.

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Was sind aktuelle Entwicklungsarbeiten?

© Fraunhofer CPM
Abbildung 1: Partikel (z.B. Kaffeepulver) in einer flexiblen Hülle. Oben im weichen Zustand ohne Vakuum. Die Partikel können aneinander abgleiten. Unten mit Vakuum, die Partikel werden aneinandergepresst und der Gesamtkörper versteift sich.

-  Aktuell werden im Labormaßstab Strukturelemente erprobt, die zwischen weich und hart schalten können. Derzeit können Schaltfaktoren von >300 realisiert werden. Das bedeutet, dass die Steifigkeit im »steifen« Zustand mehr als 300-mal so hoch ist wie im Weichen.

-  Die Schaltbarkeit beruht auf einem Vakuumkonzept. Dabei befindet sich Partikel (z.B. Kaffeepulver) in einer flexiblen Hülle (siehe Abbildung 1). Im weichen Zustand ohne Vakuum können die Schichten fast aufeinander und die Partikel aneinander abgleiten, fast wie in einem Fluid. Im Zustand mit Vakuum, wenn das System evakuiert wird, werden die Partikel und Schichten aneinandergepresst und es wird ein steifer Gesamtkörper gebildet. Wie das Ganze aussehen kann, ist in Abbildung 2 zu sehen.

 

© Fraunhofer CPM
Abbildung 2: So könnte das Ganze aussehen...

Zudem wird an der Entwicklung eines lokal steif und weich schaltbaren Soft-Robotik-Arms gearbeitet. Durch das einzelne weich oder steif schalten, können so flexible Gelenke freigegeben werden oder als steife Verbindungselemente dienen. Die Strukturkomponenten selber können zu Gelenken werden, wodurch komplexere Bewegungsabläufe möglich werden und sich die inhärente Sicherheit des Roboters erhöht (Ausweichbewegungen werden möglich und das Erweichen von kollisionsgefärdeten Bereichen des Arms im Extremfall bringt zusätzliche Sicherheit).

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